Mittwoch, 2. Februar 2022

Muße-Selbstverständnis


                             

 




Selbstverständnis für Mußekünstlerinnen und Mußekünstler


Mußekünstlerinnen und Mußekünstler wollen die Muße rehabilitieren und weltweit lustvoll verströmen. Sie wenden sich gegen die herrschende Arbeitsmoral und sind an einem Zusammenschluss mit Gleichgesinnten interessiert, um einen Paradigmenwechsel von einer Arbeits- zu einer Mußegesellschaft zu erreichen. Dieser Übergang zur Mußegesellschaft wurde von Muße-Kunst-Studierenden und Praktizierenden (im folgenden Mußekünstlerinnen und Mußekünstler genannt), die immer schon zur Muße-Kunst neigten, eingeleitet und ist derzeit bereits im Gange. Ein verstärkter öffentlicher Diskurs wird angestrebt, damit immer mehr Frauen und Männer den verinnerlichten Arbeitsethos überwinden und ein Loblied auf die Muße singen.

Die Grundvoraussetzung auf der dieser Zusammenschluss beruht, ist die Anerkennung der außerordentlichen Bedeutung der Muße, die auf eine Verbindung von Kunst und Leben zielt. Mußekünstlerinnen und Mußekünstler entwerfen im Rückgriff auf verschiedene Muße-Lobpreiserinnen und -Lobpreiser aus drei Jahrtausenden mit dem Fokus auf gegenwärtige Entwicklungen und unterschiedlichen Kulturen ein skizzenhaftes Bild einer möglichen Zukunft.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler haben einen eigenen Umgang mit einer bestimmten Form der Zeit. Sie halten es für notwendig, sich bei dem Begriff „Muße“ in Abstimmung der Definitionen von Philosophen und Philosophinnen, Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus drei Jahrtausenden stets neu zu verständigen. Ausgehend von diesem Verständnis dient die Definition von Muße als Teil der freien, bewussten Tätigkeit zur Orientierung und Meinungsbildung.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler emanzipieren sich vom Diktat der fortschreitenden Zeit (quantitative Zeit) und konzentrieren sich auf die qualitative Zeit außerhalb der Zeit-ist-Geld-Logik.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler lassen die Zeit so oft wie möglich absichtlich dahingehen und vertreiben sie mit zweckfreien und scheinbar sinnlosen Beschäftigungen (z.B. in den Himmel schauen, das Spiel der Wolken verfolgen). Sie leben lustvoll und genießerisch in den Tag hinein.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler befreien sich von dem Diktat nach Sinn und nehmen sich entschlossen das Recht heraus, selbst zu bestimmen, was schön und beachtenswert ist. Sie schulen ihre Sinne und durchbrechen ihre Wahrnehmungs-Routine – zwanglos und zweckfrei den Augenblick genießend.

Im Unterschied zum Habitus der Privilegierten, die die freie Zeit und die Nicht-Erwerbsarbeit als ihr Vorrecht betrachten und sich diesbezüglich bedeckt halten, bekennen sich Mußekünstlerinnen und Mußekünstler offen zu ihrer nicht-ökonomisch genutzten Zeit und zum zweckfreien Tun. Nicht, weil sie die Muße eigennützig für sich allein beanspruchen wollen, sondern weil sie sich aus einem Gerechtigkeitsempfinden heraus Muße für alle ersehnen. Sie schützen sich auf ihre ganz eigene Art und mit ihren eigenen Lebensbewältigungsstrategien vor Kritik, Neid und Anfeindungen. Es gelingt ihnen mit der Zeit, das Muße-Tabu mit Erhabenheit, Humor und Liebenswürdigkeit zu brechen.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler sind nicht eigenbrötlerisch. Sie sind sozial und lieben das Gesellige genau so wie das Alleinsein.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler verwechseln Passivität, "Nicht-tun" (wuwei), wie im Zen- Buddhismus gesagt wird, nicht mit Faulheit. Sie haben jedoch nichts gegen die Faulheit, die in der Welt der Fleißigen und Tüchtigen einen subversiven Gehalt hat und zur Muße befähigen kann. In Abgrenzung zur Faulheit ist die Muße lebensbejahend, während die Faulheit, die mit der Trägheit verschwistert ist, pure Negation ist.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler zielen auf einen Diskurs über eine Sprache der Muße. Auf die außerordentliche Bedeutung der Muße wird liebevoll bestimmt und kreativ aufmerksam gemacht. Durch die Sprache der Muße mit ihren spielerischen Wortschöpfungen werden Menschen daran erinnert, dass sie weder Arbeitstiere noch Maschinen sind.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler begeben sich bei der Theorienbildung auf die Metaebene. Sie zelebrieren eine spezielle Art des „Seins“, deshalb wird das Nachdenken und Analysieren mitunter aufgegeben.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler gehen den friedlichen „Weg der kleinen Schritte“, der das Potenzial hat, sich von den Zwängen der Herrschaftssysteme zu befreien. Das heißt, sie beginnen zunächst bei sich selbst. Sie verstehen sich als Genesende, die sich in ihrem ganz eigenen Tempo der verinnerlichten Zwänge der Herrschaftssysteme bewusst werden. Sie lernen den Umgang damit auf ihre eigene Weise aufgrund ihrer individuellen Lebensbewältigungsstrategien.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstlern gehen davon aus, dass sie für die Muße neben Zeit und Raum auch Kraft brauchen und dass sie ihren Zweck in sich selbst hat. Sie dehnen ihre Mußezeiten im Alltag langsam, um eine Mußehaltung zu erlangen. Mußekünstlerinnen und Mußekünstler sind durch ihre gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit in einer besonderen Gestimmtheit, die mit tiefen Einsichten und Erkenntnisfähigkeit einhergeht. Sie verspüren daher den Drang, die Gesellschaft zum Wohle der Menschen und der Umwelt mitzugestalten.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler geben sich selbst die Lizenz zur Muße und rechtfertigen sich nicht dafür. Sie verstehen sich als Lernende und Übende, die sich in einem nie abgeschlossenen Entwicklungsprozess finden.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler verstehen sich als handelnde Subjekte, die sich ihrer Verantwortung für sich selbst und der Gesellschaft bewusst sind. Der eigene Entwurf und die Mitgestaltung der Gesellschaft stehen in Wechselbeziehung zueinander. Sie haben die Vision: sie heißt Mußegesellschaft – ausgehend von der These, dass die Revolution der Mikroprozessoren bereits große Teile der „entfremdeten Arbeit“ übernommen hat: Die „Arbeitssklaven“ werden immer überflüssiger, freie bewusste Tätigkeit bei veränderten Rahmenbedingungen immer aussichtsreicher. Sie stehen einem Diskurs über diese Veränderungen von Rahmenbedingungen, wie etwa das Bedingungslose Grundeinkommen, offen gegenüber.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler sind voller Erkenntnisfreude, sind dialogfähig, offen für das „Andere, Fremde“ und geben auch ihre Wissen und ihre Erfahrungen an andere Menschen weiter. Die pädagogische Intervention erfolgt jedoch nicht moralisierend, mit erhobenen Zeigefinger, sondern augenzwinkernd, spielerisch, experimentell. Im Mittelpunkt stehen das „schöne Gespräch“ nach dem dialogischen Prinzip.

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler sind an keine bestimmte soziale Klasse gebunden. Sie fühlen sich im emanzipatorischen Sinne mit Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen, insbesondere mit Frauen und ihren männlichen Komplizen, verbunden

Mußekünstlerinnen und Mußekünstler verstehen sich selbstredend als Freigeister. Sie streben nach Ideologiefreiheit, Unabhängigkeit, Dialogfähigkeit und gehören keiner politischen Partei oder Religionsgemeinschaft an.

Dieses Selbstverständnis über „Muße-Kunst“ entstand – wenn auch von den Verfasserinnen schon
lange herbeigesehnt und antizipiert – im August 2013.


(c) Gisela Dischner, Gerlinde Knaus, Son Paulo/Mallorca, Graz/Österreich, August 2013




Prof.in Dr.in Gisela Dischner und Mag.a Gerlinde Knaus, Son Paulo, 2009






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